Kurstädte in der Neuzeit. Vermeintliche Idylle, wachsende Urbanität und demonstrativer Konsum

Kurstädte in der Neuzeit. Vermeintliche Idylle, wachsende Urbanität und demonstrativer Konsum

Organisatoren
Institut für vergleichende Städtegeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in Zusammenarbeit mit Dr. Andrea Pühringer (Grünberg) und Prof. Dr. Martin Scheutz (Wien)
Ort
Münster (digital)
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.03.2021 - 16.03.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Dennis Poschmann / Gabriel Yündem, Institut für vergleichende Städtegeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Die 47. Frühjahrstagung des Instituts für vergleichende Städtegeschichte fand 2021 unter anderen Rahmenbedingungen statt als gewöhnlich. Zum einen war dies die letzte Tagung unter der Leitung von WERNER FREITAG (Münster) vor seiner Pensionierung, zum anderen fand sie in diesem Jahr ausschließlich online statt. Freitag kündigte an, es gebe deshalb kürzere „Impulsvorträge“ mit anschließender Diskussion, dafür habe die Tagung eine Rekord-Teilnehmerzahl von 140 Gästen sowie Referentinnen und Referenten zu verzeichnen.

ANDREA PÜHRINGER (Grünberg) sprach den Punkt an, dass Kurstädte in der Neuzeit von der Stadtgeschichtsforschung bislang zu wenig bedacht worden seien, weshalb nun der Versuch unternommen werden solle, das Thema der Kurstadt im Kontext stadtgeschichtlicher Fragestellungen fruchtbar zu machen.

MARTIN SCHEUTZ (Wien) merkte in seiner Einleitung an, dass die Entwicklungsgeschichte der Kurstädte noch zu wenig erforscht und eine Periodisierung schwierig sei, auch müsse eine Verbindung zur sozial- und politikgeschichtlich orientierten Tourismusforschung hergestellt werden. Die Forschung zu Kurstädten sei zwar interdisziplinär geprägt, aber auch sehr disparat.

In der ersten Sektion sprach der Historiker ALEXANDER JENDORFF (Gießen) über den Kurort als Ort der Diplomatie. Die internationale Diplomatie des „langen“ 19. Jahrhunderts sei fest mit der Kurstadt verknüpft. Jendorff hatte zum Badener Fürstenkongress 1860 und zur Emser Depesche 1870 geforscht, ersterer diente als Beispiel für die Frage nach der diplomatischen Bedeutung und Bewertung von Kurorten. Hierbei legte der Referent dar, wie die Berliner Regierung mithilfe der Presse das diplomatische und öffentliche Feld für die geplante Zusammenkunft abseits des Hofes, in demonstrativer Zwanglosigkeit, vorbereitete. Im 19. Jahrhundert waren die politischen Gäste privat und doch offiziell anwesend, die Kurstadt stellte somit keinen neutralen Ort dar. Der Kurort sei nach Jendorffs Fazit als Bühne und Instrument einer neuen modernen Öffentlichkeit zu werten.

Im anschließenden Vortrag bot der Historiker JAN HEIN FURNÉE (Nijmegen) einen Überblick über die Geschichte der britischen „Spas“ mit einem Fokus auf deren Entwicklung, den Bezug zur städtisch-höfischen Kultur und ländlichen Umgebung sowie der Schaffung eines Images. Die Entwicklung der „Spas“ sei im Vergleich zum europäischen Kontinent einzigartig, vor allem hinsichtlich der Art der Kurorte, des Kurnetzwerkes und des Fehlens eines anhaltenden „Dynamism“; man konnte mit der Innovation im restlichen Europa nicht mithalten. Demnach spricht Furnée von einem Niedergang im 19. Jahrhundert und der Wiedergeburt der „Georgian Spas“ im 20. Jahrhundert. Dennoch kann den Briten eine innovative Rolle im frühen Tourismus des 18. und 19. Jahrhunderts zugesprochen werden. Furnée machte anhand der Verbreitung von Kurorten in Großbritannien deutlich, dass es sich statt eines gesamtbritischen um ein englisches Phänomen handelte.

Die zweite Sektion leitete CHRISTINA VANJA (Kassel) mit einem Vortrag über die Promenaden der Kurorte und die Bedeutung des Spaziergangs im Kurbetrieb ein. Sie seien nach und nach zu großen Wegenetzen ausgebaut und mit Zierrat ausgestattet worden. Das Spazierengehen sei im Verständnis der Frühen Neuzeit neben dem geregelten Trinken von Wasser und dem Baden eine Behandlungsmethode gewesen, welche zur Beseitigung ungesunder Stoffe im menschlichen Körper dienen sollte. Mit der Zeit habe es medizinische Schriften gegeben, die unter anderem den Spaziergang streng reglementierten. Zudem seien die Promenaden mit mietbaren Aborten ausgestattet worden. Allerdings habe man in Kurorten auch auf Standesunterschiede geachtet, was zur streng überwachten Ausgrenzung bestimmter Gruppen von einigen Plätzen geführt habe.

THOMAS AIGNER (Wien) gab einen Einblick in das Musikleben der Kurorte. Die Gestaltung desselben sei, je nach Tradition und finanziellen Möglichkeiten, ortsabhängig gewesen. England kam hinsichtlich des Einsatzes von Musik eine Vorreiterrolle zu. Mit der Zeit wurden Musikergruppen bzw. Orchester bestimmten Bauwerken zugeordnet. So entstand beispielsweise in Bath das Pump-Room-Orchester für das Brunnenhaus. Nach und nach kam auch die Tanzmusik ins Repertoire. In Kontinentaleuropa hielt die Musik in Kurorten erst deutlich später Einzug. Obwohl Kurorte oft zum Schauplatz von Erstaufführungen wurden, unterschied sich der Stil des Repertoires kaum von dem anderer Städte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwar viele Bäder wiederaufgebaut, die Orchester verloren aber durch ein neues Publikum und moderne Unterhaltungselektronik an Bedeutung.

Die zweite Sektion endete mit einem Vortrag von STEFAN HULFELD (Wien), der sich mit der Theaterlandschaft in den Kurstädten Ischl (bei Salzburg) und Pyrmont um das Jahr 1855 beschäftigte. Als wichtige Quellen nannte er die von den Kurorten herausgegebenen Zeitungen, welche das Theaterleben unterschiedlich aufgriffen. Im „Pyrmonter Wochenblatt“ habe das Theater nur am Rand Erwähnung gefunden, im „Ischler Fremden-Salon“ seien dagegen ein umfassendes Programm und Rezensionen zu den aufgeführten Stücken zu finden. Außerdem beeinflussten die Erwartungen der Zuschauer das Angebot. In den Theatern der Kurorte habe es eigene Ensembles gegeben, zudem setzte man beim Publikum auf eine Mischung verschiedener sozialer Schichten. Entsprechend der Funktion des Kurwesens – Entspannung und Genesung – wurde auch das Theaterprogramm erstellt. Es sei also vornehmlich um Unterhaltung und nicht um „Hochkultur“ gegangen.

Beim ersten Vortrag des zweiten Sitzungstages fragte der Kunsthistoriker ALEXANDER TACKE (Trier) unter dem Titel „Idylle versus Moderne?“, inwieweit die moderne Architektur Einzug in die Kurstädte gehalten habe. Dabei unterschied er die Ebene der Verwendung moderner Baumaterialien und -techniken (Beton und Stahl) von der Ebene der Fassadenverkleidung der Bauwerke, welche für die Kurgäste in Szene gesetzt worden seien. Nach Tacke waren vor allem aus wirtschaftlichen Erwägungen die technischen Aspekte der modernen Architektur maßgebend, auch wenn die Bauten äußerlich historisierende bzw. traditionelle Züge zeigten. Einer zentralen Forderung der Moderne, „Form follows function“, dem Anspruch, dass die Konstruktion und das Material erkennbar sein müssten, entsprach die Kurstadtarchitektur damit nicht.

Der nächste Vortrag wurde von dem Technikhistoriker MICHAEL HASCHER (Esslingen) gehalten. Er untersuchte, ob Kurstädte im „langen“ 19. Jahrhundert eine besondere Rolle als „Hotspots“ der Technikentwicklung einnahmen und inwieweit eine Wechselwirkung erkennbar sei. Gut untersucht sei der unbestreitbare Einfluss der Eisenbahn auf die Kurorte. Umgekehrt seien von den Kurorten jedoch kaum Impulse für den Reiseverkehr per Bahn ausgegangen. Der Kutschenverkehr sei daneben noch lange relevant geblieben. Anders bewertete Hascher die „Erschließung der Kurlandschaft“, wonach es gewisse Impulse gab, die in den Kurorten zu technischen Lösungen führten, wie er es am Beispiel von Standseilbahnen oder der Erschließung von Wegen festmachte. Auch sei beispielsweise auf die Entwicklung von Bohrtechniken zur Förderung der Heilquellen hinzuweisen.

Hiernach setzte MATTHIAS MARSCHIK (Wien) mit dem Thema „Kurstädte – Sportstädte?“ fort. Er zeigte für den speziellen Fall der Kurorte das Aufkommen der modernen Sportarten im 19. Jahrhundert auf. Für diese Zeit komme den Kurorten meist die Funktion eines Trendsetters und Experimentierfeldes zu. Der Sport galt ab einem gewissen Zeitpunkt als „Vergnügungsangebot“, diente aber zugleich therapeutischen Zwecken. Es könne eine Wechselwirkung zwischen Kurorten und Sport konstatiert werden, da beide sich gegenseitig beeinflussten und voneinander profitierten. Von Anfang an habe die Klasse und nicht das Geschlecht das primäre Differenzkriterium dargestellt. Der „Damen“-Sport war in den Kurorten weit verbreitet und akzeptiert.

Im vierten Vortrag der dritten Sektion referierte RAINER HERING (Schleswig) zu dem Thema „Konfessionskulturen in der Kurstadt“. Hierbei stellte er Untersuchungen einzelner Orte und die Bedeutung von Kirchen und Religion in Kurstädten, besonders im Hinblick auf religiöse Minderheiten, vor. Es sei den Kurgästen wichtig gewesen, die eigenen religiösen Bedürfnisse zu erfüllen. Dies stellte ein Auswahlkriterium bei der Wahl des Kurortes dar. Somit kann von der Religion als Wirtschaftsfaktor die Rede sein. Wichtig sei auch die Kurseelsorge, die ihre Ursprünge im 19. Jahrhundert habe und sich im Laufe des 20. Jahrhunderts professionalisierte.
Am Ende seiner Präsentation fragte Hering danach, wie sich religiöse Angebote auf die konfessionelle Kultur eines Ortes auswirkten, ob sie als Bereicherung oder als Bedrohung gewertet worden seien und wie sie sich auf die Toleranz der Bevölkerung ausgewirkt haben.

Sektion IV wurde von BARBARA KRUG-RICHTER (Saarbrücken) mit einem Vortrag über die Ernährung in Kurorten eingeleitet. Um die Jahrhundertwende formulierten sogenannte „Lebensreformer“ ihre eigene Lehre der Ernährung. Die Nahrung in den Kurorten sei vielfältig und die Grenze zwischen der Bewertung als „Nahrung“ oder „Medizin“ fließend gewesen. Allgemein könne bei dem Essen in Kurorten von einer Mischung aus Gerichten der Oberschicht und der „Reform-Nahrung“ gesprochen werden. Regionale Produktion sei dabei begrüßt worden. In vielen Kurorten gab es Betriebe, die sich auf die Herstellung eines bestimmten Nahrungsmittels für den Kurbedarf spezialisierten. Während der Kuraufenthalte habe es für die Gäste umfangreiche Nahrungsanweisungen gegeben, spezielle Kochbücher habe man für die Zeit nach der Kur erwerben können. Neben der kontrollierten Ernährung gehörten auch Luft- und Lichtbäder zu den zeitgenössischen Therapieformen.

Einen Einblick in die Bedeutung von Kleidung bei Kuraufenthalten gab BIRGITT BORKOPP-RESTLE (Bern). Sie konzentrierte sich dabei auf die Zeit zwischen dem Ende des 18. und dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Kurstädte seien „Brennpunkte“ für den Umgang mit und die Verbreitung von Mode gewesen; Kleidung habe der Repräsentation und Kommunikation gedient, denn dadurch erkannte man die Zugehörigkeit zu verschiedenen Standesgruppen. Je nach Gelegenheit (u.a. Spaziergang, Theaterbesuch) gab es spezifische, „angemessene“ Garderoben. Die eigene Reisekleidung wurde deshalb gern durch Einkäufe vor Ort ergänzt, wofür ein entsprechendes Angebot vorhanden war. Es sei leider keine Kleidung erhalten, der ein expliziter Kontext zu einem Kuraufenthalt nachgewiesen werden könne, aber es gebe diesbezüglich überlieferte Modemagazine, die in den Kurorten v.a. Mode aus Paris und London bewarb. Zusammen mit entsprechenden Tagebucheinträgen, Briefen und Werbung örtlicher Geschäfte in der Presse bieten diese Quellen ein genaueres Bild der Mode in Kurorten.

Im dritten Vortrag sprach HOLGER TH. GRÄF (Marburg) über die Kurstädte als Kunstmärkte. Er konzentrierte sich auf die Kurstadt Bad Homburg, welche seit den 1830er-Jahren nachweislich über einen Kunstmarkt verfügte. Angeboten wurden im Bereich der Malerei vor allem Sujets der Landschaftsmalerei; beliebt waren zudem Kopien älterer Kunstwerke. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde zunehmend das Sujet des Orientalismus nachgefragt. In preußischen Gebieten war der Kunstmarkt zeitweise stark vom Kulturkampf geprägt. Aufgrund ihrer häufig gehobenen Position stellten die Kurgäste die potenzielle Kundschaft des örtlichen Kunstmarkts dar. Aber auch andere Gruppen, begüterte Neubürger und Besitzer von Hotels und Kurhäusern, steigerten die lokale Nachfrage nach Kunstobjekten bzw. traten als Auftraggeber von Kunstwerken in Erscheinung. Dafür standen lokale Künstler wie auch auswärtige Maler zur Verfügung.

In seinem Schlusskommentar betonte MARTIN KNOLL (Salzburg), dass eine sinnvolle Trennung von Kurgeschichte und Tourismusgeschichte nicht möglich sei. In Salzburg beispielsweise habe es ein bewusstes Mischkonzept von Kurhäusern und Hotels gegeben. Für die Analyse der Kurstädte sei zudem die Betrachtung der Infrastruktur im Hinblick auf die Industrialisierung bedeutend. Der Begriff der „Tourismusindustrie“ sei wohlbekannt, der Charakter der Kurhäuser als industrielle Betriebe hingegen weniger, weil diese Eigenschaft im Kur-Stadtbild eher „verschleiert“ wurde. Auch habe man die Wechselwirkungen zwischen äußeren Einflüssen und lokalen Gegebenheiten erkennen können.

Kurorte waren durch eine hohe Mobilität gekennzeichnet. Zudem wurde klar, dass die Bäder neben der Krankenbehandlung auch Orte der Geselligkeit und des Vergnügens gewesen seien, was sich beim Thema „Kleidung“, aber auch bei Musik, Theater und Sport deutlich zeigte. Dies habe die Kurorte in Verbindung mit Gesellschaft und Materialität zu „sozio-naturalen“ Schauplätzen gemacht, wobei sich der Ort in stetiger Veränderung befunden habe.

Konferenzübersicht:

Werner Freitag (Münster): Andrea Pühringer (Grünberg), Martin Scheutz (Wien)
Begrüßung und Einführung

Sektion I Die Kurstadt in multidisziplinärer Perspektive und als europäisches Phänomen, Forschungs- und Quellenüberblicke für ausgewählte Regionen

Alexander Jendorff (Gießen): Tanzender Kongress? Das Kurbad als Ort der Diplomatie – eine Bestandsaufnahme

Jan H. Furnée (Nijmegen): Forschungsüberblick England

Sektion II Eine mühsam erworbene und teure Idylle

Christina Vanja (Kassel): Gärten, Parks und Natur – gesunde Spaziergänge

Thomas Aigner (Wien): Die Kurstadt als Musikstadt: Walzerseligkeit und neue Tänze im Kurkonzert

Stefan Hulfeld (Wien): Die Kurstadt als ein Phänomen der Theatergeschichte

Sektion III Kurstädte im Zeichen der Moderne

Andreas Tacke (Trier): Idylle versus Moderne? Überlegungen zur Architektur von Kurstädten

Michael Hascher (Esslingen): Kurstädte als Ziele der Eisenbahn und Hotspots der Technikgeschichte

Matthias Marschik (Wien): Kurstadt – Sportstadt? Körperlichkeit und Moderne

Rainer Hering (Schleswig): Konfessionskulturen in der Kurstadt: Anglikaner, Juden, Protestanten, Katholiken, Russisch- und Griechisch-Orthodoxe

Sektion IV Kurstädte als Konsumstädte

Barbara Krug-Richter (Saarbrücken): Kohlrabi-Apostel und Sonnenlichtnahrung. Ernährung im Kurort um 1900

Birgitt Borkopp-Restle (Bern): Kurstädte als Orte der Mode und des Kleiderhandels

Holger Th. Gräf (Marburg): Kurstädte als Kunstmarkt – vom Porträt des Kurgastes bis zu den „Alten Meistern“

Martin Knoll (Salzburg): Schlusskommentar


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